Hinterfragt

Der Trend zum Microlearning

Wiesbaden, November 2016 - In Zeiten, in denen von verdichteten Arbeitsrhythmen und kurzen Aufmerksamkeitsspannen die Rede ist, scheint Microlearning eine naheliegende Lösung. Der amerikanische Bildungsexperte Karl Kapp stellte Anfang des Jahres Microlearning als einen von "5 Learning Tech Trends to Watch in the Next 5 Years" vor. Und als im Rahmen des jüngsten Learning Delphi des MMB - Institut für Medien- und Kompetenzforschung Experten gefragt wurden, welche Innovationen Corporate Learning in den kommenden Jahren prägen werden, antworteten 71 Prozent: "Videobasierte Lerneinheiten im 'YouTube'-Stil". Damit setzten sie diese Option an die zweite Stelle, nur knapp hinter einer weiteren Zunahme "kollaborativer bzw. sozialer Lernformen" (72 Prozent).

Doch was genau ist Microlearning? Entscheidet der Umfang? Oder ist Microlearning an ein Medium wie Film oder Audio gebunden? Ist es zwangsläufig eine didaktisch gestaltete und professionell aufbereitete Einheit? Oder entscheidet der Nutzer und sein Verwendungszusammenhang letztlich darüber, was Microlearning ist und was nicht?

Halten wir an dieser Stelle fest, dass Microlearning eine Folge kurzer Lernaktivitäten darstellt, in denen Lerner mit einem Inhalt und/oder anderen Lernern interagieren und die in einem formalen oder informellen Kontext stattfinden können.

Woher kommt nun das seit einigen Jahren zu beobachtende Interesse an Microlearning? Als Anfang der 1990er Jahre die ersten Computer-based Trainings, später abgelöst von Web-based Trainings, in die betriebliche Weiterbildung Einzug hielten, war die Länge der Programme kein Thema. Es reichte den Beteiligten, dass der Nutzer nahtlos ein- und aussteigen konnte und dass ein System im Hintergrund seinen Bearbeitungsstand speicherte. Da vergleichbare Seminare oft Tage dauerten, war die Länge der Online-Maßnahmen unkritisch. Das ist heute anders. Der Nutzer und sein Lernerlebnis, seine "learning experience", sind in den Vordergrund gerückt. Und hier treffen sich verschiedene, parallel laufende Entwicklungen:

  • Der Zugriff auf das Internet mit Hilfe mobiler Endgeräte steigt.
  • Videoportale prägen unseren Umgang und unsere Erwartungen an Medien.
  • Messaging Apps dominieren die Online-Kommunikation.
  • Die technischen Hürden für die Entwicklung kurzer Medienformate sind gesunken – bis zum user-generated content, bei dem die Nutzer selbst Beiträge und Medien mit anderen teilen.

Man vermutet zudem, dass jüngere Mitarbeiter ("net generation") und bestimmte Mitarbeiterprofile ("knowledge worker") vom Trend zum Kurzformat besonders angesprochen werden.

Werfen wir einen Blick auf drei Formen, die Microlearning in Lernzusammenhängen einnehmen kann:

  1. Ein weit verbreitetes Format sind kurze Erklärfilme. Hier hat sich in den letzten Jahren – unterstützt durch große Plattformen für Massive Open Online Courses und Videotutorial sowie die populäre Khan Academy – eine breite Palette an Formaten entwickelt: von kurzen Filmen, über Animationen ("stop motion", "typo animations") bis zu interaktivem Video in verschiedenen Ausprägungen ("embedded hotspots", "branching", "video within video", "perspective views"). Dies hat dazu geführt, dass heute schon vom "Video-based Learning" bzw. "Video-based eLearning" gesprochen wird. 
    Unternehmen setzen die verschiedenen Formate heute in unterschiedlichen Zusammenhängen ein. Ein internationaler Finanzdienstleister sensibilisiert Führungskräfte mit kurzen drei-minütigen Filmen für die Aufgaben, die sie in ihrer neuen Rolle erwarten. Der Titel der Reihe heißt bezeichnenderweise „Management in a Nutshell“. Andere Unternehmen stellen Mitarbeitern das neue Kompetenzmodell vor, erklären die wichtigsten Punkte eines neuen globalen HR-Prozesses und des Relaunchs ihres Webauftritts. Die Übergänge zwischen Lernen und Kommunikation sind dabei fließend. Im Vordergrund steht weniger die Vermittlung von Wissen, häufiger die Sensibilisierung für bestimmte Themen oder das Setzen von Impulsen. 
     
  2. Großer Beliebtheit erfreuen sich seit einigen Jahren auch Infografiken, mit deren Hilfe komplexe Zusammenhänge für den Betrachter ansprechend ins Bild gesetzt werden. Die Geschichte der Infografik kann fast beliebig zurückdatiert werden. Schon lange heißt es: "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte". Infografiken gibt es als Themenüberblicke, als Aufbereitung großer Zahlenmengen sowie als grafisch gestaltete Checklisten oder auch im interaktiven Format. Für Einsteiger gibt es sogar eine Reihe von kostenlosen Tools, um selbst einfache Infografiken zu entwickeln. 
    Wie nutzen Unternehmen nun das neue Format? Eine schweizerische Bank setzt zum Beispiel auf Infografiken, um über die jährlichen Weiterbildungsaktivitäten des Unternehmens zu informieren. Eine Bildungsakademie bietet sie an, um den Ablauf ihrer mehrwöchigen Kursangebote zu visualisieren ("Your Learning Travel Plan"). Und ein anderer Finanzdienstleister nimmt das Format, um sowohl die Phasen der Teamentwicklung als auch den daran gekoppelten internen Beratungsprozess zu vermitteln. Letzteres in einer interaktiven Version, die dem Nutzer weitere Informationen via Mausklick bietet. 
     
  3. Hinzu kommen die unzähligen Lösungen, die konkret für die Nutzung durch mobile Endgeräte entwickelt werden, im responsive Design oder direkt als App. Die Anwendungen bzw. Anwendungsmöglichkeiten sind zu vielfältig, um sie an dieser Stelle aufzuzählen. Sie reichen von kurzen Informationsbausteinen, über Bedienungshilfen bis zu Checklisten. Sie sind angereichert um kurze Videos oder Links und verweisen in der Regel auf weiterführende Ressourcen im Intranet der Unternehmen, gerne im Sinne von "7 Things You Should Know About …".
     

Selbstverständlich ersetzt Microlearning nicht die Vermittlung von Grundlagen- und Hintergrundwissen. Es ist deshalb in der Regel ein Baustein eines Blended Learning-Konzepts oder einer Lern- bzw. Kommunikationskampagne. Wo Microlearning genau seinen Platz hat, wie es mit anderen Inhaltsformaten korrespondiert und wie es in die Kommunikation zwischen Experten und Lernern eingebettet ist, bestimmen entsprechende Lehr-/Lernszenarien. Bildungsexperten und Lehrende, die mit den Formaten und Möglichkeiten von Microlearning vertraut sind, bilden deshalb die Voraussetzung für seinen Einsatz. Microlearning stellt aber noch weitere Anforderungen an Learning & Development:

  • Es ist heute schon so, dass sich viele Kurzformate auf ganz unterschiedlichen Plattformen und Systemen befinden: Case Studies auf dem Learning Management System, Erklärfilme auf dem unternehmensinternen Videoportal, Wissensbausteine auf der Wiki-Plattform, einfache Checklisten in einer App. Und einzelne Angebote liegen vielleicht sogar auf einer offenen Plattform oder einem sozialen Netzwerk im Web. Wie verbindet Learning & Development diese Elemente zu einer Lernumgebung? Wie sieht das Lernportal aus, über das die Mitarbeiter komfortabel und zielgerichtet auf personalisierte Bausteine zugreifen?
      
  • Wenn man den schnellen Zugriff der Nutzer auf diese Angebote ermöglichen will (und darin liegt ja gerade ihr Charme bzw. Mehrwert), dann setzt das voraus, dass sie auch die entsprechenden Medien- und Selbstlernkompetenzen besitzen. Und wenn dieser Zugriff in die täglichen Arbeitsprozesse eingebunden ist, dann hilft eine Unternehmens- bzw. Führungskultur, die das eigenverantwortliche Handeln stützt und die entsprechenden Freiräume zulässt.

Diese Freiräume können sich lohnen. Wie hat es der amerikanische Unternehmensberater und Bildungsexperte Josh Bersin in einem Artikel jüngst auf den Punkt gebracht: "… the way people want to learn today can be described in one word: fast."