Intelligente Unterstützung

XR und KI in der Medizintechnik

Werum, November 2025 - (von Torsten Fell) Die Medizintechnik gilt als einer der innovativsten und zugleich anspruchsvollsten Industriezweige. Neue bildgebende Verfahren, robotergestützte Systeme und vernetzte Geräte verändern Diagnostik und Therapie grundlegend. Mit dem technologischen Fortschritt wächst jedoch auch die Komplexität – sowohl in der Entwicklung als auch im sicheren Betrieb dieser Systeme.

Für Hersteller, Kliniken und Servicepartner entstehen dadurch vielfältige Herausforderungen: Schulungen müssen immer mehr Wissen in kürzerer Zeit vermitteln, Wartung und Support erfordern hochspezialisiertes Personal, und die Dokumentation regulatorischer Nachweise bindet erhebliche Ressourcen. Auch im Vertrieb steigt der Bedarf, komplexe Produkte anschaulich und verständlich zu präsentieren – oft über Länder- und Sprachgrenzen hinweg.

Extended Reality (XR) und Künstliche Intelligenz (KI) eröffnen hier neue Lösungsräume. XR macht medizintechnische Produkte immersiv erfahrbar, während KI Lernprozesse, Diagnosen und Supportsituationen intelligent begleitet und personalisiert. Gemeinsam ermöglichen beide Technologien eine durchgängige Unterstützung über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg – von der Entwicklung bis zur Patientenkommunikation.

Ich will aufzeigen, wie XR und KI den Lebenszyklus medizintechnischer Produkte ganzheitlich begleiten und damit Qualität, Sicherheit und Effizienz in der MedTech-Branche nachhaltig stärken können.

Ausgangslage und Herausforderungen

Medizintechnische Geräte zählen zu den komplexesten technischen Systemen im Gesundheitswesen. Ihre Bedienung erfordert präzises Wissen, standardisierte Abläufe und höchste Sicherheit. Schon kleine Bedienfehler können schwerwiegende Folgen haben – für Patient:innen ebenso wie für die Geräte selbst.

Die Zielgruppen, die mit diesen Systemen arbeiten, sind äußerst heterogen: Entwickler:innen, Servicetechniker:innen, Ärzt:innen, Pflegepersonal und in manchen Fällen auch Patient:innen. Jede dieser Gruppen benötigt unterschiedliche Informationen, Schulungstiefen und Kommunikationsformate. Daraus ergibt sich ein hoher Anspruch an die Gestaltung von Trainings-, Support- und Informationssystemen.

Hinzu kommen regulatorische Anforderungen und Dokumentationspflichten, etwa im Rahmen der europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR). Diese erhöhen den Aufwand für Schulung und Nachweisführung erheblich. Gleichzeitig erschweren Sprach- und Wissensbarrieren die Vermittlung komplexer Inhalte – insbesondere bei internationalen Produktrollouts.

Klassische Trainings- und Supportmodelle stoßen hier an ihre Grenzen. Präsenzschulungen sind kostenintensiv und schwer skalierbar, Handbücher werden selten vollständig gelesen, und Video-Tutorials bieten keine echte Interaktion. In einer zunehmend vernetzten und digitalen MedTech-Landschaft wächst daher der Bedarf an flexiblen, immersiven und intelligenten Lösungen, die Lernen, Anwenden und Unterstützen effizient miteinander verbinden.

Rolle von XR in der Medizintechnik

Extended Reality (XR) – als Sammelbegriff für Virtual, Augmented und Mixed Reality – entwickelt sich zunehmend zu einem strategischen Enabler in der Medizintechnik. Sie schafft Räume, in denen komplexe Technologien erlebbar, Schulungen skalierbar und Kommunikationssituationen realistisch trainierbar werden. Besonders in Kombination mit KI entstehen neue Formen der Wissensvermittlung, Begleitung und Interaktion.

Immersive Trainings und Simulationen

XR ermöglicht es, medizintechnische Geräte und Anwendungen realitätsnah zu trainieren. Ärztinnen, Pflegekräfte und Techniker:innen können den sicheren Umgang mit neuen Systemen in einem virtuellen Umfeld erlernen, in dem Fehler keine Folgen haben. Szenarien reichen von der Vorbereitung eines Eingriffs über den Geräteaufbau bis zur Notfallreaktion. Diese Trainings sind skalierbar, weltweit verfügbar und können in Echtzeit ausgewertet werden.

Softskills und Kommunikation im 3D-Raum

Neben technischen Fähigkeiten lassen sich auch kommunikative und emotionale Kompetenzen gezielt trainieren. In simulierten 3D-Umgebungen können medizinische Fachkräfte oder Vertriebsmitarbeitende realistische Gesprächssituationen erleben – etwa ein Beratungsgespräch mit Ärztinnen, ein Verkaufsgespräch in der Klinik oder eine Einweisung mit Patient:innen.

KI-gestützte Avatare übernehmen dabei unterschiedliche Rollen: Kund:innen, Patient:innen, Kolleg:innen oder Trainer:innen. Sie reagieren in Echtzeit auf Sprache, Gestik und Emotion, wodurch authentische Interaktionen und Feedbacksituationen entstehen. So können Softskills wie Empathie, Argumentationsfähigkeit oder Konfliktlösung messbar und praxisnah geschult werden.

Unterstützung bei Inbetriebnahme und Anwendung

Bei der Einführung neuer Geräte bieten XR-Umgebungen einen deutlichen Mehrwert. Techniker:innen und Anwender:innen können mithilfe von Mixed-Reality-Brillen durch die Inbetriebnahme geführt werden. KI-Avatare begleiten diesen Prozess, erkennen den Fortschritt, geben Hinweise oder korrigieren fehlerhafte Schritte. Diese Kombination aus visueller Anleitung und intelligentem Support senkt Fehlerquoten, beschleunigt die Installation und reduziert Schulungsaufwand. Auch werden hier kollaborative Szenarien mit Expert:innen eingesetzt, die weltweit die Prozesse unterstützen.

Remote Support und Wartung

Durch Augmented-Reality-gestützten Fernsupport können Hersteller ihre Kund:innen weltweit begleiten. Über eine AR-Brille wird der reale Arbeitsplatz mit virtuellen Hinweisen überlagert, während ein KI-Avatar oder ein menschlicher Experte in Echtzeit unterstützt. Das beschleunigt Wartungen, verhindert Fehlbedienungen und steigert die Verfügbarkeit medizintechnischer Systeme.

Produktpräsentation und Vertrieb

Im Marketing und Vertrieb ersetzt XR zunehmend physische Demonstrationen z.B. in virtuellen. Showrooms. Interaktive 3D-Modelle ermöglichen es, Geräte und Funktionen detailliert zu präsentieren – auch in virtuellen Meetings oder Messen. Vertriebsmitarbeitende können mit einem KI-Avatar als virtueller Produktexperte auftreten oder gemeinsam mit Kund:innen durch eine simulierte OP-Umgebung gehen. Das stärkt das Verständnis und die emotionale Bindung an das Produkt. Auch können über AR die Geräte lebensgroß virtuell ab den Einsatzort platziert werden und die Inbetriebnahme und Funktion simuliert werden.

Dokumentation und Compliance

XR-Anwendungen können Trainingsverläufe, Interaktionen und Wissensstände automatisch dokumentieren. Mixed-Reality-Anleitungen gewährleisten, dass Anwender:innen normgerechte Abläufe befolgen. Damit wird nicht nur die Qualitätssicherung gestärkt, sondern auch der Nachweis regulatorischer Anforderungen (z. B. MDR, ISO 13485) vereinfacht.

Rolle von KI in der Medizintechnik

Künstliche Intelligenz (KI) verändert die Medizintechnik in nahezu allen Phasen – von der Entwicklung über den Betrieb bis hin zur Anwenderschulung. Während XR vor allem den visuellen und räumlichen Zugang schafft, sorgt KI für die intelligente Auswertung, Steuerung und Personalisierung von Prozessen. Im Zusammenspiel entstehen adaptive Systeme, die Wissen nicht nur vermitteln, sondern situationsgerecht begleiten.

Adaptive Lernsysteme und personalisierte Trainings
KI-basierte Lernsysteme analysieren das Verhalten von Lernenden in Echtzeit. Sie erkennen, welche Schritte sicher beherrscht werden und wo Unsicherheiten bestehen. Auf dieser Basis werden Inhalte, Schwierigkeitsgrad und Feedback individuell angepasst. So wird aus einem standardisierten Training ein dynamisches Lernsystem, das jede Nutzerin und jeden Nutzer optimal fördert.
In XR-Trainings kann die KI zudem Lernverläufe speichern und gezielt neue Szenarien vorschlagen – etwa komplexere Eingriffe, alternative Gerätetypen oder kommunikative Herausforderungen mit virtuellen Avataren.

Predictive Support und Wartungsintelligenz
KI spielt eine zentrale Rolle in der vorausschauenden Wartung medizintechnischer Systeme. Durch die Analyse von Betriebsdaten, Sensorwerten und Fehlerprotokollen kann sie drohende Ausfälle frühzeitig erkennen und Wartungsmaßnahmen automatisch einleiten. Kombiniert mit AR-gestützten Assistenzsystemen entsteht so ein reibungsloser Serviceprozess: Das System erkennt den Fehler, zeigt die Lösung visuell an und dokumentiert die Durchführung automatisch.

KI-Buddys und 3D-Avatare als interaktive Assistenz

KI-gestützte Avatare sind mehr als animierte Figuren – sie sind lernfähige Dialogpartner. Sie begleiten Fachkräfte bei der Einarbeitung, unterstützen in Echtzeit bei der Inbetriebnahme eines Geräts oder simulieren realistische Gesprächssituationen.
Ein KI-Buddy kann beispielsweise während eines XR-Trainings technische Fragen beantworten, Abläufe erklären oder Fehler aufzeigen. Im Vertrieb oder in Schulungen können KI-Avatare als virtuelle Expert:innen auftreten, die medizinische Hintergründe erläutern oder Produktmerkmale interaktiv demonstrieren. Damit entsteht eine neue Form digitaler Begleitung, die Wissen emotional, kontextbezogen und interaktiv vermittelt.

Datenanalyse und Qualitätsmanagement

KI ermöglicht eine präzise Auswertung von Trainings-, Nutzungs- und Service-Daten. So lassen sich Lernfortschritte, Bedienfehler oder häufige Wartungsvorgänge systematisch erfassen und in die Produktentwicklung zurückführen. Hersteller können auf dieser Grundlage Designverbesserungen umsetzen, Schulungsinhalte anpassen oder Supportprozesse optimieren.
Durch die Kombination aus XR-Trackingdaten (z. B. Blickrichtung, Handbewegungen) und KI-Analysen entstehen wertvolle Erkenntnisse über Bedienverhalten und Usability – ein entscheidender Faktor für Patientensicherheit und Produktqualität.

Natürliche Interaktion durch Sprache, Gestik und Emotion

Moderne KI-Systeme sind in der Lage, Sprache, Emotion und nonverbale Signale zu verstehen. Dadurch werden XR-Trainings natürlicher und intuitiver: Der KI-Avatar reagiert nicht nur auf Befehle, sondern erkennt Unsicherheiten, interpretiert Tonlagen und passt sein Verhalten entsprechend an. Diese empathische Komponente macht das Lernen in 3D-Umgebungen menschlicher und wirkungsvoller – insbesondere bei Softskills-Trainings, in denen Vertrauen, Kommunikation und Reaktionsfähigkeit entscheidend sind.

Erfolgsfaktoren und Herausforderungen

Die erfolgreiche Einführung von XR- und KI-Lösungen in der Medizintechnik erfordert weit mehr als technologische Innovationskraft. Entscheidend ist ein integrativer Ansatz, der Fachdisziplinen, Systeme und Menschen gleichermaßen einbezieht.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit:
Medizintechnische Projekte verbinden unterschiedliche Fachwelten – Medizin, Ingenieurwesen, IT, Pädagogik und Regulierung. XR- und KI-Anwendungen können ihr Potenzial nur entfalten, wenn diese Disziplinen von Beginn an gemeinsam planen. Das betrifft nicht nur technische Schnittstellen, sondern auch didaktische Konzepte, Sicherheitsanforderungen und die spätere Evaluation.

Datenschutz und regulatorische Anforderungen: Der Einsatz von XR und KI muss stets im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben wie der Medizinprodukteverordnung (MDR) und der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) stehen. Besonders kritisch sind dabei personenbezogene Daten, Video- und Audiodaten aus Trainings oder Supportprozessen. Klare Rollen- und Zugriffskonzepte, sichere Datenhaltung und transparente Informationspflichten sind unerlässlich.

Integration in bestehende Systeme: Damit XR- und KI-Lösungen nachhaltig wirken, müssen sie sich in bestehende IT-Landschaften einfügen – etwa in Lernplattformen (LMS), Enterprise-Resource-Planning-Systeme (ERP) oder Customer-Relationship-Management-Lösungen (CRM). Nur durch diese Vernetzung lassen sich Trainingsdaten, Servicestatistiken und Produktinformationen sinnvoll zusammenführen und auswerten.

Akzeptanz und Schulung der Anwender:innen: Technologieakzeptanz ist ein zentraler Erfolgsfaktor. Ärzt:innen, Pflegekräfte und Servicetechniker:innen müssen verstehen, welchen konkreten Nutzen XR und AI in ihrem Arbeitsalltag bieten. Eine gezielte Einführung, begleitet durch praxisnahe Schulungen und kontinuierliches Feedback, stärkt Vertrauen und Motivation.

Messbare Wirksamkeit und Return on Investment: XR- und KI-Projekte müssen ihren Mehrwert belegen können – durch messbare Ergebnisse wie verkürzte Einarbeitungszeiten, reduzierte Supportkosten oder verbesserte Prozesssicherheit. Evaluationssysteme und KPIs helfen, diese Effekte sichtbar zu machen und den wirtschaftlichen Nutzen gegenüber Entscheidungsträgern zu belegen.

Fazit und Ausblick

XR und KI entwickeln sich in der Medizintechnik zu strategischen Enablern für Qualität, Sicherheit und Effizienz. Sie schaffen neue Wege, komplexe Technologien verständlich zu vermitteln, Prozesse zu beschleunigen und Wissen langfristig verfügbar zu machen. Was heute oft noch als ergänzendes Schulungs- oder Supportinstrument eingesetzt wird, wird künftig Teil eines integrierten Produkt- und Wissensökosystems sein.

Der Schritt vom Einzeltraining hin zu einer vernetzten XR/KI-Lern- und Servicewelt ist bereits erkennbar: Trainingsdaten fließen in Produktverbesserungen ein, virtuelle Umgebungen begleiten reale Arbeitsprozesse, und KI-Avatare übernehmen aktive Rollen in Support und Kommunikation. So entsteht ein kontinuierlicher Kreislauf aus Lernen, Anwenden und Optimieren – entlang des gesamten Produktlebenszyklus.

Zukünftige Entwicklungen deuten auf eine weitere Verschmelzung von virtueller und realer Praxis hin. Mixed-Reality-Operationstrainings werden chirurgische Teams weltweit miteinander vernetzen. KI-Coaches werden individuelle Lernpfade und Echtzeit-Feedback bieten. Digitale Zwillinge von Geräten und Prozessen ermöglichen es, Wartung, Qualität und Patientensicherheit in Echtzeit zu überwachen und zu verbessern.

Der entscheidende Erfolgsfaktor bleibt jedoch das Denken in Zusammenhängen: Wer XR und KI nicht als Einzeltechnologien, sondern als Bestandteil einer ganzheitlichen Strategie versteht – von der Produktidee bis zur klinischen Anwendung –, schafft die Basis für nachhaltige Innovation und Vertrauen in die Medizintechnik der Zukunft.